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Andrew.txt
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Als Andrew aufwachte, wusste er nicht, ob es Morgen oder Abend war, geschweige denn welcher Wochentag. Das war an sich nicht so ungewöhnlich, doch irgendetwas sagte ihm, dass es diesmal nichts mit seinen unorthodoxen Arbeitszeiten, sondern viel mehr mit den rasenden Kopfschmerzen zu tun hatte, die ihn wünschen ließen, er hätte noch ein paar Tage weiter geschlafen. Eine Weile versuchte er, dem Kopfschmerz zu trotzen und über die unmittelbare Zukunft nachzudenken, zum Beispiel wie er an einen starken Kaffee kommen konnte, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Irgendwo verlor er jedoch den Faden und seine Gedanken verlagerten sich auf die unmittelbare Vergangenheit, konkret den letzten Abend. Er war im Sticks gewesen... nein, im Freiraum... ja genau, und er hatte dort ein paar Nerfpunks mit viel zu coolen Implantaten und einer Vorliebe für Sambuca getroffen, die dann eine Runde nach der anderen bestellt hatten. Und dann... dann waren sie noch irgendwo anders hin gegangen... Als keine weiteren Erinnerungen sich anschlossen, füllte sich Andrews Bewusstsein langsam wieder mit Kaffeegedanken. Wenn er nur das NetPack auf dem Sessel erreichen könnte, könnte er damit die Kaffeemaschine anschmeißen und musste erst aufstehen, wenn der Kaffee fertig war. Er rutschte ein wenig auf der Schlafcouch herum und streckte seinen Arm aus, so weit sein momentaner Zustand es zuließ. Das NetPack war immer noch unüberbrückbare eineinhalb Meter entfernt. Er verharrte eine Weile mit ausgestrecktem Arm und starrte das NetPack an. Allmählich schlich sich eine Wahrnehmung mitten in das Pochen der Kopfschmerzen. Da war irgendwas beim NetPack. Das seltsame war, er wusste nicht, woher er diese Einsicht nahm, denn sehen konnte er nichts, jedenfalls nichts außergewöhnliches, also nur ein Twocell NetPack 4.5 in einem Kristallblau, das vor etwa tausend Jahren mal stylisch gewesen war. Auch hören konnte er nichts, nein, es war überhaupt keine vertraute Sinneswahrnehmung, aber irgendwoher bekam sein geplagtes Gehirn eine Information, die es räumlich halbwegs dem NetPack zuordnen, aber nicht so recht weiter verarbeiten konnte. Andrew wurde es jetzt entschieden zu bunt, er schloss die Augen und versuchte, noch ein wenig zu schlafen. Nach einer Zeitspanne, die bestimmt nahe an zehn Minuten kam, gab er es auf, seufzte tief und stand endlich auf.
Der Tag ließ sich Zeit damit, angenehmer oder auch nur weniger verwirrend zu werden. Als er die wichtigsten seiner Communities nach Neuigkeiten abgraste, während trotz besorgniserregender Konzentrationen von Trimethylxanthin und Acetylsalicylsäure in seinem Blut immer noch ein Dampfhammer seinen Kopf von innen bearbeitete, fand er eine Nachricht von einem gewissen Lyndon Johnson: Andrew solle sich bitte baldmöglichst für eine kurze Besprechung bei ihm melden. Hatte er kürzlich einen Auftrag von einem Mr Johnson angenommen? Ratlos sah Andrew seine Nachrichten durch. Ja, er hatte tatsächlich mit einem Lyndon Johnson Kontakt gehabt, aber die Nachrichten klangen mehr nach irgendeiner medizinischen Studie, an der er sich teil zu nehmen bereit erklärt hatte. Hatte er das? Dass die Erinnerung an den vergangenen Abend Lücken aufwies war er ohne Widerspruch bereit zu akzeptieren, aber dass auch von den letzten Tagen oder gar Wochen Teile fehlen könnten irritierte ihn mehr als nur ein wenig.
Würde er sich wirklich für eine medizinische Studie melden? Es standen keine Details in den Messages, aber was auch immer die in ihren Beschreibungen erzählten, letztlich konnten die ihm doch alles mögliche spritzen. Hatte er so dringend Geld gebraucht? Hatte er nicht in letzter Zeit ein paar dicke Aufträge an Land gezogen? Zum Beispiel...
Andrew fluchte. Was war mit seinem Gedächtnis los? Er beschloss, vorerst die Kaffeezufuhr aufrecht zu erhalten und seine Hoffnungen auf den morgigen Tag zu setzen.
Doch so leicht sollte er nicht davon kommen. Wenig später meldete sein Messaging-Client, dass ein Kontakt namens ljohnson online sei, und kurze Zeit später forderte auch schon ein Anruf blinkend Andrews Aufmerksamkeit. Ein paar Sekunden lang hing sein Blick unschlüssig am Messenger-Symbol. Sollte er einfach ran gehen und fragen, um was es noch gleich ging? Und wenn es nun doch ein Auftrag gewesen war? Dann könnte das ganz schön haarig werden. Schließlich schaltete er auf Ignorieren. Vorerst würde er kein weiteres Wort mit diesem Mr Johnson wechseln, ohne zumindest noch einmal die History komplett durchzugehen. Wenn er ehrlich war hatte er sowieso ein ungutes Gefühl bei dieser Sache. Was war das überhaupt für ein Name? Wer hieß denn wirklich "Johnson"? Da hätte der Kerl auch gleich "Achtung Deckname!" in seinen Messenger-Status schreiben können. Hatte so nicht sogar ein amerikanischer Präsident geheißen? Lyndon B. Johnson oder so? Am Ende hatte der irgendeine Scam-Nummer mit ihm vor. Zuerst mal würde Andrew ein wenig seine Fühler ausstrecken und dann entscheiden, ob er diesem Johnson eine weitere Kontaktaufnahme gestattete.
Damit hätte die Angelegenheit erledigt sein können, zumindest hätte Andrew nichts dagegen gehabt. Er widmete seine Aufmerksamkeit anderen Projekten, kleineren Aufträgen, die noch in Bearbeitung waren, und Recherchen über ein neues Tool von dem er gehört hatte. Aber auch dabei stieß er immer wieder auf Gedächtnislücken; nicht so vollständig wie bei der Johnson-Geschichte, aber zu deutlich, um sie einfach zu ignorieren. Nachdem ein Blick auf die Uhr ihn endlich über die Tageszeit aufklärte - es war später Nachmittag - beschloss er, erst einmal etwas zu essen und sich ein paar Folgen Lexington Dynamo anzusehen.
Der Kater zog sich nur widerwillig zurück, und Andrew fühlte sich auch am folgenden Tag noch ausgelaugt und unkonzentriert. Als Hagen ihn am frühen Abend anschrieb war er mehr als nur bereit, die Arbeit für heute ruhen zu lassen.
Franklyn11:> sgehtab
DrOberheim:> son kopf kipp gleich weg XP
Franklyn11:> runde bier/tequila sticks
DrOberheim:> positiv
Franklyn11:> regerplatz halbe std
DrOberheim:> bisdann
Als Andrew den üblichen Treffpunkt nahe der Tramhaltestelle Regerplatz erreichte wartete Hagen schon auf ihn. Er grinste und winkte, kam auf Andrew zu und schloss ihn in die übliche kraftvolle Umarmung. Hagen konnte fester zudrücken als man auf den ersten Blick glaubte. Er war klein und schmächtig und sah seinem Namensvetter aus der germanischen Mythologie so gar nicht ähnlich. In den dürren Armen versteckte sich dennoch eine Menge Kraft, aber sein größtes Potential verbarg sich unter seinen struppigen braunen Haaren. Dort waren Scharfsinn und Kreativität mit Verhandlungsgeschick und Planungsgabe gepaart. Das Startkapital, das er aus dem Familienvermögen bezogen hatte, hatte er in einen kleinen, inzwischen gut laufenden Hardwareladen mit Werkstatt gesteckt. Er stellte Equipment nach Kundenwünschen zusammen und erfüllte mit Freude auch ausgefallene Anfragen, besorgte Bauteile, die es längst nicht mehr geben sollte und verband Geräte, die nie zum Verbinden gedacht waren. Andrew hatte ihn bald nachdem er nach München gekommen war kennengelernt und sie hatten sich von Anfang an blendend verstanden.
"Machst langsam schlapp, was?" fragte Hagen mit neckendem Spott.
Andrew zuckte betont lässig mit den Schultern. "Möcht dich mal nach 26 Sambuca sehen."
Hagen lachte herzlich. Zusammen gingen sie durch die Grünanlagen und kleinen Straßen Richtung Silberhornstraße, wo das Sticks sie erwartete.
"Hast du Gravity mal wieder gesehen?" fragte Hagen nach ein paar Minuten. "Wie sieht's aus mit euch Zweien?"
Andrew seufzte. "Du fragst Sachen. Sie war neulich mal wieder bei mir, ja. Da ging schon was. Aber du kennst sie ja, für Bindung war sie noch nie so zu haben... und ich wohl auch nicht unbedingt. Aber seit dem letzten Mal hab ich schon verdammt viel an sie gedacht."
Hagen knuffte ihn in die Seite. "Keine Ausflüchte, Mann. Hör auf mit dem Bindungs-Blabla und schnapp' sie dir! In Wirklichkeit will sie's doch auch."
Andrew verdrehte die Augen. "Wenn du bei der Arbeit die Dinge auch nur halb so sehr vereinfachst, frage ich mich, wie du auch nur eine Woche überleben konntest."
Sie waren hinter ihm her. Er wusste nicht mehr, wie lange sie ihm schon auf den Fersen waren, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Er rannte, so schnell er konnte, aber er kam nur quälend langsam voran. Es war so dunkel, dass er die Häuser und einmündenden Straßen nur schemenhaft erkennen konnte. Er warf im Laufen einen Blick nach hinten. Er konnte niemanden sehen, aber er wusste, dass sie ihm schon ganz nahe waren. Er bog wahllos in eine Seitenstraße ab. Vielleicht konnte er sie abschütteln. Er lief eine Weile weiter, bog dann wieder ab, dann noch einmal, und wieder und wieder. Die Straßen wurden immer schmaler und noch dunkler, bis er sich in einer winzigen Gasse wiederfand, von der keine anderen Straßen mehr abzweigten. Er lief bis an ihr Ende und stand vor einer einfachen grauen Metalltür. Er öffnete sie und trat ein. Eine Treppe führte nach unten. Ohne nachzudenken stieg er hinab. Nachdem er eine ganze Weile Stufe um Stufe genommen hatte, erreichte er einen winzigen Flur, an dessen Ende eine identische Metalltür auf ihn wartete. Auch hier trat er ohne zu zögern ein.
Er erkannte ihn sofort wieder. Davor hatte er ihn immer nur als tiefblauen Schemen gesehen, dennoch gab es jetzt keinen Zweifel, wer vor ihm stand. Und er wusste jetzt auch seinen Namen. Jesse.
"Jesse Light", ergänzte der blaue Humanoide, als hätte er Andrews Gedanken gelesen. Seine Stimme klang tief und melodisch. Er sah aus wie aus Stein gemeißelt, aus dunkelblauem, leicht durchscheinendem Stein. Seine Gesichtszüge und seine Körperform waren kantig, doch seine Bewegungen waren so flüssig wie die eines normalen Menschen, wenn nicht sogar noch graziler. Fast konnte man ihm eine Art überirdische Anmut zuschreiben. Verstärkt wurde dieser Eindruck davon, dass sein gesamter Körper leicht lichtdurchlässig war.
"Gut, dass du endlich hier bist, Andrew." Andrew nickte. Ja, es war gut.
"Du weißt, dass du anders bist als die anderen." Wieder nickte Andrew, diesmal etwas zögerlicher. Ja, er fühlte sich anders, aber was genau unterschied ihn von den anderen? "Es gibt Leute, die dir wegnehmen wollen, was dich besonders macht. Hüte dich vor ihnen." Plötzlich fielen ihm seine Verfolger wieder ein. Seit er die erste der Türen betreten hatte, hatte er keinen Gedanken mehr an sie verschwendet. "Ich werde dir helfen, deine Fähigkeiten zu nutzen."
Jesse trat einen Schritt auf ihn zu, streckte seine Hand aus und berührte ihn an der Stirn. Es fühlte sich an, als würde er durch die Stirn hindurch in Andrews Kopf fassen. Doch es war kein bedrohliches Gefühl; es fühlte sich vertraut an, als sei Jesse kein Fremdling in Andrews Gedanken. Irgendetwas geschah. Andrew konnte nicht sagen, was, aber es fühlte sich richtig an. Er war beinahe enttäuscht, als der Kontakt abbrach.
"Geh jetzt", sagte Jesse freundlich. "Wir sehen uns bald wieder."
Andrew bemerkte eine Tür hinter Jesse, die den zwei vorherigen genau glich. Er ergriff die Klinke und drückte sie herunter, zog die Tür auf und trat hindurch.
Im Sticks war einiges los. Etwas zu viel, fand Andrew. Er hatte eigentlich gar keine Lust gehabt, auszugehen, aber Hagen hatte ihn so lange traktiert bis es Andrew lieber gewesen war, mit zu kommen, als sein Gequengel noch länger zu ertragen. Andrew kam als letzter. Die anderen hatten irgendwie einen Tisch ergattert. Rechts neben Hagen saß Fabrizio, die unvermeidliche knallbunte Baseball-Kappe lässig auf dem modischen Kurzhaarschnitt. Hagen gegenüber saß TJ. Wie meistens trug sie ihre Bundeswehrjacke über irgendeinem dunklen T-Shirt, dazu schwarze Leggings und hochhackige Stiefel. Ihre schneeweißen Haare ließen an den Ansätzen ein wenig von ihrem natürlichen schwarz sehen. Auf Hals und Wange prangte ein schwarzes [[Artoo]], ein Efeu, der sich von ihrem Schlüsselbein bis hinters Ohr rankte.
TJ hieß eigentlich Tessa. Eine Weile hatten sie sie "Tess" genannt, aber dann war sie auf die Idee gekommen, mit ihrem zweiten Vornamen - Jeanette - die Abkürzung "TJ" zu bilden. Nachdem sie eine Zeit lang hartnäckig jeden ignoriert hatte, der sie anders angesprochen hatte, war das nun ihr offizieller Rufname.
Sie grinste ihn an als er sich auf den freien Platz zwischen ihr und Hagen setzte.
"Ach kuck an, hast du doch noch deine Wohnungstür wiedergefunden? Ich hätte drauf gewettet, dass ich dich spätestens am Mittwoch bei der Runde [[Bl00dsukker]] im Hirschgarten sehe! Was war'n los?"
"Hatte zu tun, sorry" murmelte Andrew. "Brauchst du noch 'n Bier?"
Sie tranken Tegernseer, tauschten eher belanglose Neuigkeiten aus und alberten herum. Andrew beteiligte sich wenig. Er hatte abwechselnd das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete, und dass irgendjemand während er hier saß seine Accounts knackte und ihm Daten stahl. Schließlich stupste ihn TJ an.
"Andrew? Was ist denn los mit dir? Du bist so... ich hätte fast 'ruhig' gesagt, aber das bist du sonst eigentlich auch. Aber irgendwas stimmt doch nicht, oder?"
"Doch, ich mein... nein. Keine Ahnung. Passt schon. Hab vielleicht bisschen viel gearbeitet."
Während er es sagte fiel ihm auf, dass er im Gegenteil kaum gearbeitet hatte in letzter Zeit. Er hatte nicht oft die nötige Konzentration aufbringen können. Stimmte wirklich etwas nicht mit ihm? Aber konnte er sich TJ bedenkenlos anvertrauen? Je weniger sie wusste, desto weniger konnte sie verraten.
"Magst du kurz mit raus kommen? Ich geh eine rauchen."
"Nee, es ist echt alles OK. Ich brauch keine Frischluft, danke."
TJ sah ihn noch einen Moment nachdenklich und vielleicht etwas besorgt an, schnappte sich dann aber ihre Zigaretten vom Tisch und verschwand ohne zu protestieren Richtung Tür.