-
Notifications
You must be signed in to change notification settings - Fork 0
/
Copy pathRoel.txt
25 lines (24 loc) · 5.48 KB
/
Roel.txt
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
Walin runzelte die Stirn. "Hältst du das für eine gute Idee? Der Kerl ist immerhin ein Verbrecher!"
"Der General persönlich hat es angeordnet. Er wird seine Gründe haben." Derk klang kein bisschen beunruhigt.
"Haben wir nicht selber genug Männer für so diese Aufgabe?" hakte Walin nach.
Derk zuckte mit den Schultern. "Vielleicht sind unsere Männer dem General zu schade ..."
"Ja, ganz bestimmt," unterbrach Walin spöttisch. "Und selbst wenn, er wird doch einen einzigen Mann entbehren können!"
"... oder er will einen echten Experten," fuhr Derk unbeirrt fort. "Der Mann soll wirklich heiß sein."
"Aber wenn er sich's zwischendurch anders überlegt und auf unsere Leute losgeht?" beharrte Walin.
Derk verdrehte die Augen. "Du tust ja gerade so, als müsstest du selbst an seiner Seite kämpfen! Jetzt wart' erstmal ab, wahrscheinlich geht er gar nicht darauf ein, dann müssen wir uns eh was anders einfallen lassen."
Derk schrieb noch sorgfältig zwei Worte auf das vor ihm liegende Pergament, dann stand er von seinem schweren Eichenholzschreibtisch auf und ging zur Tür. Im Flur auf der anderen Seite wartete ein Wachposten. Derk wechselte ein paar kurze Worte mit ihm, woraufhin er loseilte und am Ende des Ganges um die Ecke verschwand. Derk kehrte zu seinem Arbeitsplatz zurück.
"Dann wollen wir mal sehen," sagte er und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Walin schwieg und starrte verdrießlich auf seinen eigenen Schreibtisch.
Wenig später klopfte es an der Tür. Auf Derks Aufforderung hin trat der Wachmann von vorhin ein, gefolgt von zwei weiteren Bewaffneten in den grün-schwarzen Wappenröcken der herzöglichen Armee. Zwischen sich führten sie eine komplett in dunklem grau gekleidete Gestalt. Der Fremde war etwas kleiner als seine Begleiter. Sein Körperbau war, soweit man das unter dem grauen Mantel erkennen konnte, eher drahtig als muskulös. Sein Gesicht war von der Kapuze des Mantels und einer Art Schal oder Halstuch fast vollständig verhüllt. Seine Hände waren mit eisernen Handschellen gefesselt. Das Trio blieb mitten im Raum stehen, während der Wachposten wieder seinen Platz vor der Tür einnahm.
Derk tat eine genau kalkulierte Zeit lang so, als sähe er seine Papiere duch, bevor er aufschaute.
"Soso," sagte er ein wenig spöttisch, während er den Graugewandeten musterte. "Das 'Phantom'. Hast du auch einen richtigen Namen?"
Der Fremde hielt Derks Blick stand, ohne ihn einer Antwort zu würdigen. Walin versuchte mit nur mäßigem Erfolg, sein Unbehagen zu verbergen.
"Na, wie auch immer," fuhr Derk fort, "ich denke, du weißt ungefähr, was man die vorwirft. Diebstahl, Widerstand gegen die herzogliche Gewalt, Körperverletzung, Mord, ..." Derk zog die Augenbrauen hoch und sah kurz auf. Noch immer zeigte sein Gegenüber keine Reaktion. "... um nur einige zu nennen," fügte er hinzu. "Aber wir sind ja keine Unmenschen." Seine Stimme triefte plötzlich vor gespieltem Großmut. "General Soran Freiherr von Remdal lässt dir folgendes Angebot machen. Wir bieten dir vollkommene Straffreiheit. Im Gegenzug verpflichtest du dich bis auf Weiteres in den Dienst des Herzogs. Was sagst du?"
"In Ordnung."
Derk war so überrascht darüber, überhaupt eine Antwort zu bekommen, dass er nicht wusste, ob er richtig gehört hatte.
"Wie bitte?" fragte er verdutzt.
"Ich mach's," sagte der Gefangene, seine Stimme durch das Tuch gedämpft.
"Ah. Ja. Sehr schön," stammelte Derk und sah zu Walin hinüber, dem immer noch nicht wohler bei der Sache zu sein schien.
"Ausgezeichnet," behauptete Derk, nachdem er sich wieder gesammelt hatte. "Leider müssen wir dich vorerst hier in einer Zelle unterbringen, bis wir etwas angemessenes gefunden haben. Ich nehme an, du hast dafür Verständnis."
Das "Phantom" war wieder in seine Sprachlosigkeit zurückgefallen. Derk nahm seinen Schlüsselbund und erhob sich. Er nickte den Bewaffneten zu, woraufhin sie den Graugekleideten aus dem Zimmer führten. Derk warf Walin noch einen aufmunternden Blick zu, den dieser mit einer Grimasse quittierte, und setzte sich an die Spitze der kleinen Gruppe. Sie gingen den langen Flur hinunter, um eine Biegung und durch eine schwere Eichentür ins Freie. Draußen war es kühl und bereits dunkel, der Herbst hatte die Tage gekürzt und die Luft abgekühlt. Während sie den großen Innenhof duchquerten und auf das Gefängnisgebäude zugingen, sah Derk zur schmalen Mondsichel hinauf, die gerade hinter einer Wolke verschwand. Plötzlich meinte er, ein Geräusch zu hören, und drehte sich um. Mit schreckgeweiteten Augen blieb er wie angewurzelt stehen. Der Gefangene war verschwunden, und einer seiner Bewacher ging gerade mit einem erstickten Röcheln zu Boden. Der andere zog mit panischem Gesichtsausdruck sein Schwert und blickte gehetzt um sich. Bevor er etwas tun konnte sprang ihn ein grauer Schatten an, zerrte ihn zu Boden und verschwand wieder. Entsetzt machte Derk zwei unsichere Schritte rückwärts. Er wirbelte herum, um zum Wachhaus zu laufen und Alarm zu schlagen. Doch bevor er den zweiten Schritt getan hatte, bekam er einen Schlag auf den Hinterkopf. Ihm wurde einen Moment schwarz vor Augen. Als er wieder klar denken konnte lag er mit Schmerzen in Kopf und Brust auf dem Boden. Zitternd schloss er die Augen und wartete auf den Schlag, der es zu Ende bringen würde. Statt dessen hörte er eine gedämpfte Stimme nahe an seinem Ohr.
"Sag deinem General: Wenn ich für ihn arbeite, dann unter meinen eigenen Bedingungen. Und was meinen Namen angeht: Meine Freunde und meine liebsten Feinde dürfen mich 'Roel' nennen."
Als Derk es wagte, die Augen wieder zu öffnen, war vom 'Phantom' keine Spur mehr zu sehen.